Studie: bis zu 15 Prozent der rechtlichen Betreuungen vermeidbar

Bis zu 15 Prozent der rechtlichen Betreuungen von Menschen mit psychischer Krankheit oder einer Behinderung könnten vermieden werden. Dafür müssten jedoch vorgelagerte, andere Unterstützungsangebote besser greifen. Auch sollten die Betreuungsbehörden besser vernetzt und ausgestattet werden. Experten zeigen Wege auf und schlagen vor, ein Assistenzmodell zu erproben.

Titel der Studie: Umsetzung des Erforderlichkeitsgrundsatzes in der betreuungsrechtlichen Praxis im Hinblick auf vorgelagerte „andere Hilfen“

Hintergrund: Die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung für hilfsbedürftige Menschen soll soweit als möglich vermieden. werden. In den vergangenen Jahren stieg ihre Zahl jedoch an. Um die zuständigen Betreuungsbehörden bei der Suche nach vorgelagerten, anderen Hilfen zu stärken, griff der Gesetzgeber ein.

Fragestellung: Wirkt das Juli 2014 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde“, um rechtliche Betreuungen zu verhindern oder zu begrenzen? Wo gibt es weiterhin Hemmnisse?

Methode: Schriftliche Befragungen, Workshops, Interviews unter Einbezug von Betreuungsbehörden, –gerichten und –richtern, rechtlichen Betreuern, Vertretern von Sozialleistungsträgern und sozialen Hilfsinstitutionen.

Ergebnisse: Zwischen fünf und 15 Prozent der rechtlichen Betreuungen können vermieden werden. Nötig ist es, vorgelagerte, andere Hilfen effizienter zu nutzen. Dies erfordert insbesondere strukturelle Veränderungen und mehr Personal in Betreuungsbehörden sowie den Ausbau anderer Hilfsangebote.

Auftraggeber: Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz

Schlagwörter: Rechtliche Betreuungen, Betreuungsbehörden, Erforderlichkeitsgrundsatz, soziale Hilfsangebote, andere Hilfen

Autoren: Dr. Grit Braeseke, Hans-Dieter Nolting, Thorsten Tisch, Karsten Zich

Berlin, 05.02.2018 (IGES Institut) - Das ist das Fazit einer rechtstatsächlichen Untersuchung des IGES Instituts im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Die Studie analysiert, ob das im Juli 2014 in Kraft getretene „Gesetz zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde“ wirkt, wie beabsichtigt.

Mit dem Gesetz wurden die Aufgaben der Betreuungsbehörden im Vorfeld rechtlicher Betreuungen erweitert, u.a. um Betreuungen auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Rechtliche Betreuungen sollen entsprechend dem sogenannten Erforderlichkeitsgrundsatz nur dann eingerichtet werden, wenn die Angelegenheiten eines Betroffenen nicht durch andere Hilfen geregelt werden können. Anlass für das Gesetz waren steigende Zahlen rechtlicher Betreuungen. Aktuell haben mehr als eine Millionen Menschen aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung einen gerichtlich bestellten Betreuer.

Zu wenig oder unterbesetzte Hilfsalternativen

Die Befragung von Betreuungsbehörden, Richtern und Betreuer im Rahmen der Studie zeigt, dass zwischen fünf und 15 Prozent der rechtlichen Betreuungen vermieden oder begrenzt werden könnten, wenn andere Hilfen effizienter genutzt würden. Zu diesen vorgeschalteten Hilfsangeboten gehören der allgemeine Sozialdienst, der sozialpsychiatrische Dienst, Schuldnerberatungsstellen oder auch Angebote des ambulanten betreuten Wohnens. Diese Angebote fehlen aber teilweise in den Kommunen, sind unterbesetzt und sollten den Gutachtern zufolge ausgebaut werden. Dabei regen die Träger anderer Hilfen oft selbst rechtliche Betreuungen an, teilweise auch, weil sie sich damit von aufwändigen Aufgaben entlasten wollen, wie die Studie ebenfalls zeigt.

Personelle Ausstattung der Betreuungsbehörden schwankt stark

Zu den gesetzlichen Aufgaben der Betreuungsbehörden gehört es, Betroffene über andere Hilfsangebote zu beraten und dahin zu vermitteln. Die Umsetzung hängt wiederum maßgeblich davon ab, wie Betreuungsbehörden vernetzt und personell ausgestattet sind.

So erhöhte sich zwar in den ersten eineinhalb Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes die Zahl der Stellen in den Betreuungsbehörden um gut 20 Prozent. Auffällig ist jedoch die regional sehr unterschiedliche Ausstattung der Behörden: So gibt es Behörden mit nur einer halben Stelle pro 100.000 Einwohner, aber auch solche mit 9,7. Der Bundesschnitt liegt bei 2,7 pro 100.000 Bundesbürger.

Aktenbearbeitung und Recherche beanspruchen die meiste Arbeitszeit

Rechnerisch ergibt sich mit diesen Zahlen, dass fast jede fünfte Behörde allein mit der Bearbeitung neuer Betreuungsverfahren – also durch die Sachverhaltsermittlung bei den Betroffenen sowie in deren sozialem Umfeld und durch das Verfassen von Sozialberichten für die Betreuungsgerichte – komplett aus oder sogar überlastet ist. Mitarbeiter berichten, dass oftmals zu wenig Zeit für die Vermittlungs- und Aufklärungsarbeit zu anderen Hilfsangebote bleibt.

Großer Unterstützungsbedarf bei Sozialleistungsanträgen

Zahlreiche rechtliche Betreuungen könnten zudem verhindert werden, wenn Betroffene besser bei der Beantragung von Sozialleistungen unterstützt würden. Denn viele sind damit stark überfordert. Bei fünf bis 25 Prozent der gerichtlich eingerichteten Betreuungen steht dies ganz im Vordergrund.

Rechtliche Betreuer geben für jeden vierten Fall an, dass sie mehr als 90 Prozent ihrer Betreuungstätigkeit dafür einsetzen, Sozialleistungsansprüche zu beantragen und durchzusetzen. Offenbar haben Betroffene zuvor nicht ausreichend Hilfe erhalten. So berichtet jeder dritte rechtliche Betreuer, dass es Mitarbeitern bei den Sozialleistungsträgern an Verständnis für die Situation der Betroffenen fehlt.

Besser mit Verständnis- und Orientierungsproblemen gehen hingegen Mitarbeiter der Sozialpsychiatrischen Dienste, der Pflegestützpunkte oder der Altenhilfe um, wie rechtliche Betreuer in der Studie berichten. Jede zweite Betreuungsbehörde hält zudem ehrenamtliche Formularlotsen für sehr hilfreich.

Zwei von drei Betreuungen durch gute Sachverhaltsermittlung verhindert

Auch in der Zusammenarbeit zwischen Betreuungsbehörde und Betreuungsgerichten, die über die Bestellung eines rechtlichen Betreuers entscheiden, zeigt sich Verbesserungspotenzial. Zwar sind in nur 7,8 Prozent aller Neuverfahren Betreuungsbehörden nicht eingebunden (Stand 2015). Allerdings geben elf Prozent aller Betreuungsbehörden an, dass die Richter ihre Ausführungen „zu anderen Hilfen“ in den Sozialberichten kaum beachtet haben.

Dabei sind diese Ausführungen den Richtern wichtig: denn bei zwei von drei abgelehnten Betreuungen war für sie entscheidend, dass Betreuungsbehörden vorab ausreichend andere Hilfen gefunden hatten. So konnten nach Einschätzung der befragten Richter 13 Prozent der neu beantragten Betreuungen vermieden werden. Den Studienautoren zufolge sollte die Qualität der Sozialberichte der Betreuungsbehörden daher weiter verbessert werden, indem etwa verstärkt Verfahren der sogenannten „Sozialdiagnostik“ genutzt werden.

Falldokumentation verbessern und mehr Know-how-Transfer organisieren

Um andere Hilfen besser vermitteln zu können, müssen Betreuungsbehörden über deren Angebote informiert und gut vernetzt sein. Doch zwischen sieben und 40 Prozent der Behördenmitarbeiter geben an, noch Informationsbedarf bezüglich einzelner anderer Hilfen zu haben. Entsprechende Schulungen halten Mitarbeiter daher für sehr sinnvoll, die den Studienautoren zufolge regional ausgerichtet sein sollten. Verbessert werden sollte zudem die Zusammenarbeit in den institutionsübergreifenden, örtlichen Arbeitsgemeinschaften, die etwa 71 Prozent aller Betreuungsbehörden haben. Auch Sozialhilfeträger sollen stärkeren Kontakt zu Betreuungsbehörden suchen.

Um die Tätigkeiten der Betreuungsbehörden beim Thema andere Hilfen weiterzuentwickeln, sollte eine transparente und einheitliche Dokumentation weiter vorangetrieben werden, so die IGES-Experten. Auch könnte der Austausch von Erfahrungen - Know-how-Transfer zwischen Betreuungsbehörden - dazu beitragen, die Zahl der Betreuungen zu verringern.

Assistenz vor richterlichen Entscheidungen einbinden

Die Studienautoren beschreiben zudem ein Modell einer zeitlich begrenzten Fallverantwortung und erweiterten Assistenz, das wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden sollte. Danach versuchen Fallmanager gemeinsam mit und entsprechend dem Willen der Betroffenen, ohne Einrichtung einer rechtlichen Betreuung die erforderlichen Hilfearrangements zu organisieren. Sie können dabei ausloten, ob sich so eine rechtliche Betreuung vermeiden lässt, ohne die Interessen der Betroffenen zu gefährden.

Dies können Betreuungsbehörden derzeit nicht leisten, weil sie keine Fallverantwortung übernehmen dürfen. Vergleichbaren Ansätzen - etwa das in Österreich eingeführte „Clearing plus“ oder das Projekt „Komplementäre Hilfen“ in Hamm – gelingt es so, rechtliche Betreuungen in gewissem Umfang zu vermeiden.