Neues Bewertungsverfahren für Hochrisiko-Medizinprodukt: "Vor übereiltem Vorgehen muss gewarnt werden"

Interview mit Prof. Thomas Kersting, Senior Associate am IGES Institut, und Michael Weißer, Chief Operation Officer AiM, über das neue Prüf- und Bewertungsverfahren für Hochrisiko-Medizinprodukte und die Folgen für Krankenhäuser und Hersteller.

Hintergrund: Krankenhäuser, die erstmalig beim Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) eine NUB-Anfrage für eine neue Untersuchungs- oder Behandlungsmethode mit einem Medizinprodukt der höchsten Risikoklassen stellen, sind gemäß des §137h SGB V seit Jahresanfang verpflichtet, Informationen an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu übermitteln.

Der neue § 137h SGB V wurde 2015 mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) beschlossen. Eine weitere Folge ist die Medizinproduktemethoden-Bewertungsverordnung (MeMBV), die seit Beginn des Jahres 2016 in Kraft getreten ist. Sie regelt, wie im System der bisherigen Klassifizierung von Medizinprodukten nun Hochrisikoprodukte abgegrenzt werden.

Das Verfahren beim G-BA greift, sobald beim InEK zu einer neuen Methode, deren Einsatz maßgeblich auf dem Einsatz eines Medizinproduktes hoher Risikoklasse beruht, erstmalig eine Anfrage mit dem Ziel der späteren Verhandlung eines NUB-Zusatzentgeltes gestellt wird.

Dann muss das anfragende Krankenhaus dem G-BA zugleich Informationen über den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu dieser Methode übermitteln. Die Rechtspflichten der Krankenhäuser im NUB-Anfrage-Prozess wachsen damit im Vergleich zum bisherigen Verfahren erheblich.

Zu dem neuen Verfahren mit neuen Betrachtungsweisen und Definitionen kommen zudem enge Zeitvorgaben hinzu: Krankenhäuser müssen ihre NUB-Anfragen bis zum 31.10.2016 beim InEK platziert haben, wenn diese für 2017 noch Berücksichtigung finden sollen.

Experten aus Unternehmen der IGES-Gruppe beobachten diese Entwicklungen von Beginn an. Über aktuelle Herausforderungen sprechen: Prof. Thomas Kersting (IGES Institut) und Michael Weißer (AiM - Assessment in Medicine):

Wie gehen Krankenhäuser und Hersteller derzeit mit dem neuen Verfahren für innovative, medizintechnische Diagnostik- und Behandlungsmethoden um?

Kersting: Im Moment herrscht noch eine gewisse Unsicherheit vor, wie mit dem neuen Verfahren zu verfahren ist. Offenbar sind eine Reihe von Anfrage an den Gemeinsamen Bundesausschuss gestellt worden. Die Beratungen dazu sind nicht öffentlich, was auch im Interesse der Medizinproduktehersteller ist. Interessant wird es sein, wie einzelne Krankenhäuser, die sich beim G-BA melden, untereinander über den Entscheidungs-Stand kommunizieren werden. Hier kommt vermutlich auch auf die Hersteller eine wichtige Aufgabe in der Organisation der Kommunikation zu.

Beim G-BA heißt es dazu mit Blick auf die Krankenhäuser, dass es für die Erfüllung des Kriteriums erstmalige NUB-Anfrage nicht darauf ankomme, ob ausschließlich das eigene Krankenhaus erstmalig eine Anfrage stellt, sondern darauf, ob bislang insgesamt keine Anfrage zu der Methode an das InEK gerichtet wurde. Wie ein einzelnes Krankenhaus hier ohne Beistand des Herstellers sich schlau machen soll und kann, ist nur eine von vielen Fragen an das neue System.

Mit wie viel Anfragen ist in diesem Jahr zu rechnen?

Kersting: Eine Reihe von Herstellern und damit auch Krankenhäusern hat mit NUB-Anfragen offenbar bereits im vergangenen Jahr quasi auf Vorrat gearbeitet, so dass in diesem Jahr keine erstmalige Anfrage zu einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode aufscheint. Das wird sich dann aber im nächsten Jahr in der Anfragefrequenz sicher niederschlagen.

Was sollten Hersteller jetzt tun?
 
Weißer Fragen kostet nichts – dieses Sprichwort gilt wohl mit Blick auf die primäre G-BA-Anfrage, nicht jedoch für die inhaltliche Vorbereitung einer solchen Anfrage. Hier werden Krankenhäuser nach unserer Einschätzung überfordert und auf die Vorarbeiten der Hersteller angewiesen sein. Gerade mit Blick auf das Risiko eines späteren Verweises im §137h-Verfahren auf eine Methoden-Erprobung nach §137e SGB V muss vor übereiltem und unsystematischem Vorgehen gewarnt werden. Hersteller und Krankenhäuser müssen sich tatsächlich ins Benehmen setzen, wenn nicht bereits mit den ersten Schritten bei potenziellen Hochrisiko-Produkten Porzellan zerschlagen werden soll.

Was ist bei NUB-Anträgen zu beachten?

Weißer: Als erste und wichtigste Regel gilt, nicht in Hektik zu verfallen. Hersteller von Medizinprodukten, die in den Hochrisiko-Bereich fallen könnten, müssen die Situation einerseits für sich mit Blick auf die Festlegungen der Medizinproduktemethoden-Bewertungsverordnung und der Verfahrensordnung vorentscheiden. Zugleich müssen sie – zweite Regel - in der Kommunikation mit möglicherweise betroffenen Krankenhäusern eng zusammen arbeiten und die Verfahrensschritte abstimmen. Dies betrifft sicher auch die unkontrollierte Anfrage-Verbreitung durch sogenannte NUB-Börsen. Die Inanspruchnahme von unterstützendem, externem Fachwissen und möglicherweise von Organisations- und Steuerungsfunktionen dürfte in derartig wichtigen Entscheidungsprozessen an Bedeutung gewinnen.

Wo bestehen die größten Unsicherheiten?

Kersting: Die wichtigste Fragte wird wahrscheinlich in den meisten Fällen sein, ob unter den engen Zeitvorgaben für dieses Jahr mit der gerade in Kraft getretenen neuen Verfahrensordnung und dem heran nahenden 31. Oktober 2016. als letzten Termin für die InEK-Anfrage überhaupt das Feld betreten werden sollte. Das zweite Sprichwort des Tages könnte somit lauten, dass in der Ruhe die Kraft liegt.