IGES-Experte Albrecht: "GKV-Lage schlecht, aber nicht hoffnungslos"

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) befindet sich nach Ansicht des Geschäftsführers des IGES Instituts, Dr. Martin Albrecht, in einer der schwersten andauernden Finanzkrisen seit Jahren. Doch es gebe Gestaltungsoptionen sowohl auf der Einnahmen- als auch Ausgabenseite. Akut seien jedoch schnellwirksame, ausgabenbegrenzende Maßnahmen kaum vermeidbar, so der Gesundheitsökonom auf einer Diskussionsveranstaltung Berlin.

Berlin, 21. Oktober 2025 (IGES Institut) – "Die Lage und Perspektiven sind schlecht, aber nicht hoffnungslos", betonte Dr. Martin Albrecht bei der Veranstaltung "GKV live" des GKV-Spitzenverbandes in Berlin. Die aktuell starken Ausgabenzuwächse seien zwar teilweise zeitverzögerte Nachwirkungen der Inflation und würden nachlassen. Man könne dennoch nicht auf ausgabendämpfende Wirkungen von bereits eingeleiteten Strukturreformen wie etwa der Krankenhausreform warten.

„Wahrscheinlich wird man um weniger komplexe Maßnahmen, die schnell wirken, aber starke Nebenwirkungen haben, nicht herumkommen“, so der Gesundheitsökonom. Er riet dazu, leistungseinschränkende oder Budgetierungs-Maßnahmen möglichst breit anzulegen, um Belastungen vergleichbar auf alle Beteiligten im Gesundheitswesen zu verteilen.

Sich öffnende Schere zwischen Ein- und Ausgaben der GKV

Das strukturelle Problem der GKV-Finanzlage machte Albrecht an konkreten Zahlen deutlich: Seit 2005 wachsen die GKV-Ausgaben pro Versicherten um durchschnittlich 4,1 Prozent jährlich, während die beitragspflichtigen Einnahmen nur um 2,5 Prozent steigen. "Hätten sich die GKV-Ausgaben seit 2005 genauso wie die beitragspflichtigen Einnahmen entwickelt, wären sie rund 60 Milliarden Euro niedriger gewesen .“

Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag werde bereits im nächsten Jahr 2026 über die kritische Marke von 43 Prozent steigen. "Ungebremst würde ein Anstieg auf 50 Prozent in zehn Jahren drohen", warnte der IGES-Experte. Für 2025 prognostiziert Albrecht eine Finanzierungslücke von etwa drei Milliarden Euro, was die Zusatzbeiträge auf circa 3,1 Prozent ansteigen lassen könnte. Durch das geplante kurzfristige Sparpaket, dass das Bundeskabinett Mitte Oktober beschlossen hat, könnte sich die Lücke auf 1 Mrd. Euro und der Anstieg der Zusatzbeiträge auf durchschnittlich 3,0 Prozent verringern.

Schwindende Akzeptanz bei den GKV-Versicherten

Albrecht warnte vor der schwindenden Akzeptanz der Finanzierungslast in der Bevölkerung. Den überproportionalen Ausgabensteigerungen stünden aus Sicht der Versicherten keine Verbesserungen, sondern sogar Verschlechterungen gegenüber: "Immer längere Terminwartezeiten, Notstand in der Pädiatrie, Arzneimittellieferengpässe, Qualitätsmängel", zählte er auf. Dabei werde oft übersehen, dass kontinuierlich medizinischer Fortschritt finanziert werde.

Höhere Beitragsbemessungsgrenze für die GKV verstärkt Steuercharakter

Man könne jedoch auf der Einnahme- als auch Ausgabenseite etwas tun, um die GKV-Finanzierung langfristig zu stabilisieren. Einnahmeseitig werde immer wieder eine Ausweitung der Beitragsgrundlagen auf weitere Einkommensarten und die Anhebung von Beitragsbemessungsgrenze und Versicherungspflichtgrenze diskutiert, erläuterte der Experte. Modellberechnungen würden ein Beitragssatz-Senkungspotenzial von knapp einem halben Prozentpunkt zeigen. Problematisch sei jedoch, dass sich andere Einkommen bei Personen konzentrieren, die bereits mit ihrem Erwerbseinkommen die Beitragsbemessungsgrenze erreichen. Ein Niveausprung der Beitragsbemessungsgrenze würde den Steuercharakter der Beiträge verstärken und die Abgabenbelastung hochqualifizierter Arbeit stark erhöhen, warnte Albrecht.

Versicherungsfremde Leistungen in der GKV gehören auf Reformagenda

Bei der Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen verweist der IGES-Geschäftsführer auf die derzeit vom Bund pauschal gezahlten 14,5 Milliarden Euro. Umfangreiche Auflistungen versicherungsfremder Leistungen kommen auf einen Ausgabenumfang in Höhe von 60 Milliarden Euro, für die eine stärkere Steuerfinanzierung derzeit kaum durchsetzbar sei. Darunter befinden sich aber auch Leistungen, deren versicherungsfremder Charakter Albrecht zufolge eher fragwürdig erscheine, wie Geburten oder Hospiz- und Palliativversorgung.

„Das Thema Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen sollte trotzdem auf der Reformagenda bleiben, aber eine vertiefende Auseinandersetzung würde ihm guttun“, so Albrecht. Denn es fehle derzeit eine klare rechtliche oder wissenschaftliche Definition derartiger Leistungen der GKV.

Zwei Perspektiven auf die GKV-Beiträge für Bürgergeldbezieher

In der Diskussion um die GKV-Beiträge für Bürgergeldbezieher sieht Albrecht zwei Ansätze: Kostendeckende Beiträge würden den Steuerzuschuss um knapp 6,1 Milliarden Euro erhöhen (bzw. um neun bis zehn Milliarden Euro, wenn zusätzlich Familienangehörige einbezogen werden). Alternativ könnten sie wie normale GKV-Mitglieder behandelt werden mit regulären Beiträgen, die auf einem fiktiven Bruttoeinkommen basieren. Das würde 4,2 Milliarden Euro zusätzliche Steuerfinanzierung kosten und zugleich die Beitragsfinanzierung stärken. Weiteres Potenzial von 1,3 Milliarden Euro sieht der Gesundheitsökonom bei Beiträgen auf Elterngeld und regulären Beitragssätzen für Studenten.

Nebenwirkungen von Leistungseinschränkungen beachten

Ausgabenseitig versprechen laut Albrecht Leistungseinschränkungen etwa durch höhere Eigenanteile und Zuzahlungen oder Rationierungen, schnelle finanzielle Wirkung, bergen aber das Risiko starker Nebenwirkungen: "Man meint die Richtigen, trifft aber die Falschen."

Derzeit erlebe die Budgetierung ein Revival. Ausgabenobergrenzen könnten nach Albrecht unterschiedlich ausgestaltet werden: von hartem "Einfrieren" auf historischem Niveau – ähnlich wie bei den Arzneimittelbudgets ab 1993 - bis hin zu weicheren Formen einer einnahmenorientierten Ausgabenpolitik. Albrecht verweist jedoch auf die Erfahrungen damit in den 1990er Jahren: Budgetierung sei äußerst konfliktanfällig, wenn sie Kollektivhaftung ohne Einbezug aller "Player" enthalte.

Notfall- und Rettungsreform und Ambulantisierung angehen

Strukturreformen seien hingegen deutlich komplexer, nicht schnell umsetzbar und brächten keine schnellen Einsparungen, so Albrecht. Mit der Krankenhausreform sei bereits die dringlichste Reform mit größter GKV-Relevanz angegangen. Allerdings seien zwei wesentliche Voraussetzung für den Erfolg noch nicht erfüllt: eine begleitende Notfall- und Rettungsdienstreform sowie eine konsistente Ambulantisierungsstrategie. Bei der Steuerung der Leistungsinanspruchnahme spreche die absehbare Entwicklung ärztlicher Personalressourcen für den massiven Ausbau digitaler Zugangsmöglichkeiten und den Übergang von einem Primärarzt- zu einem Primärversorgungssystem mit stärkerer Einbindung nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe.