Notfallversorgung in Brandenburg: Rettungswagen kommen überdurchschnittlich oft zum Einsatz

• Auch überdurchschnittliche Nutzung stationärer Notfallversorgung
• Ursachen: bundesweit niedrigste Arztdichte, hoher Altersdurchschnitt, mangelnde Transportalternativen
• Daten aus dreijährigem Forschungsprojekt liegen vor

Berlin, 8. September 2021 (IGES Institut) – Die Brandenburgerinnen und Brandenburger sind mit der medizinischen Notfallversorgung mehrheitlich zufrieden. Sie nutzen dabei allerdings im Vergleich zu anderen Bundesbürgern überdurchschnittlich häufig Rettungswagen und Notfallstellen der Krankenhäuser statt ambulante Angebote. Das ist medizinisch nur unzureichend erklärbar und verursacht vermeidbaren Ressourcenverbrauch. Jüngere Patienten beklagen zudem die oft langen Wartezeiten in den Kliniken. Experten raten daher, Notfalleinsätze besser zu steuern und weiterhin für mehr erreichbare ambulante Angebote im Akutfall zu sorgen. Nötig sind ferner Maßnahmen, um vor allem in dünn besiedelten Regionen Brandenburgs die Versorgung schwerwiegender Notfälle wie Herzinfarkt oder Schlaganfall weiter zu verbessern. Viel-versprechende Modellprojekte sollten ausgebaut werden.

Das sind die Ergebnisses eines umfassenden Forschungsprojektes über die Notfall- und Akutversorgung in Brandenburg, die auf einem Fachsymposium vorgestellt wurden. Erstmals gemeinsam und drei Jahre lang hatten Verbände der Krankenhäuser, Ärzte, Krankenkassen und Politik analysiert, wie Brandenburger in Notsituationen ärztliche Hilfe finden und wie dies optimiert werden kann. Initiiert hatte das Vorhaben die brandenburgische Landesregierung im Jahr 2016. Experten des IGES Instituts und der CSG Clinischen Studien Gesellschaft realisierten es von 2017 bis 2020. Finanziert wurde die Studie mit Mitteln des Innovationsfonds, eines von der Bundesregierung eingerichteten Förderprogramms zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung.

Hoher Altersdurchschnitt verursacht hohe Notfallrate

Während in Brandenburg 76 Prozent der Notfälle in Krankenhäusern behandelt werden, sind es im Bundesdurchschnitt nur 55 Prozent (Jahr 2017). Und auch der Rettungswagen kommt überdurchschnittlich häufig zum Einsatz: 121 Mal je 1.000 Einwohner war dies 2018 der Fall, bundesweit hingegen nur 78 Mal je 1.000 Einwohner. Eine Ursache dieser erhöhten Inanspruchnahme von stationären Notkapazitäten ist der hohe Altersdurchschnitt in Brandenburg. Es ist das Bundesland mit dem viertgrößten Anteil von Über-65-Jährigen. So sind auch mehr als die Hälfte der stationär aufgenommenen Notfallpatienten Pflegebedürftige, häufig aus Pflegeheimen. In den vergangenen Jahren hat die Zahl der Ärzte, die Dienste in Pflegeheimen machen, zwar zugenommen. Eine weitere Verbesserung der vertragsärztlichen Versorgung könnte aber dazu beitragen, Notfalleinweisungen aus Pflegeheimen zu verhindern.

Ein Grund für die häufige stationäre Notfallversorgung ist die bundesweit niedrigste Arztdichte in dem Flächenland. Nach einer Befragung von 1.200 Brandenburgern für die Studie sieht jeder Zweite einen Hausarztmangel, 80 Prozent beklagen einen Facharztmangel. Knapp jeder Zweite bewertet die Erreichbarkeit eines Facharztes oder einer ärztlichen Bereitschaftspraxis schlecht. Und nur jeder Dritte kennt den ärztlichen Bereitschaftsdienst.

Mehr als jeder zehnte der Befragten gab an, außerhalb von Praxisöffnungszeiten in als dringend empfundenen Situationen am ehesten den Rettungsdienst zu rufen. Jeder Dritte würde sich entweder an eine Klinik-Rettungsstelle oder den ärztlichen Bereitschaftsdienst wenden. Jeder Vierte ist hingegen nicht festgelegt und entscheidet je nach Art der gesundheitlichen Beschwerden. Ins-gesamt bewerten zwei von drei der Befragten die Versorgung in Not –und Akutfällen gut bis sehr gut, unabhängig, ob sie im Krankenhaus, durch den ärztlichen Bereitschaftsdienst oder Bereitschaftsdienstpraxen erfolgte. Allerdings empfinden vor allem Jüngere (18 bis 30 Jahre) die Wartezeiten in Kliniken als unangemessen (26 Prozent der Befragten), bezogen auf alle Alters-gruppen sind es nur 15 Prozent.

Ambulante ärztliche Bereitschaftspraxen noch bekannter machen

Den Studienautoren zufolge schätzen Brandenburgerinnen und Brandenburger in Akutfällen die Dringlichkeit relativ gut ein. Der ärztliche Bereitschaftsdienst und seine telefonische Erreichbarkeit sollte daher noch bekannter gemacht werden, um mehr Patienten dorthin zu steuern und so die Kliniken zu entlasten.

Die Entwicklung weist in die richtige Richtung. So wurde der ärztliche Bereitschaftsdienst in Brandenburg in den vergangenen Jahren grundlegend reformiert und landesweit 17 ärztliche Bereitschaftspraxen geschaffen, meist in der Nähe von Krankenhäusern mit Rettungsstellen. 70 Prozent aller Fälle des vertragsärztlichen Notdienstes werden inzwischen von derartigen Bereitschaftspraxen versorgt. Die Zahl ambulanter Notfälle der Rettungsstellen, bei denen eine ärztliche Bereitschaftspraxis angesiedelt ist, reduzierte sich im Zeitraum 2013 bis 2019 um durchschnittlich 2,4 Prozent jährlich. Zwar benötigen knapp 15 Prozent der Einwohner mehr als 30 Minuten Autofahrtzeit dorthin. Auf der anderen Seite trägt diese Zentralisierung dazu bei, das knappe ärztliche Personal effektiver zu nutzen.

Rettungsfahrten sinnvoller steuern und Krankentransporte ausbauen

Bessere Steuerung von Kapazitäten ist auch bei Einsätzen von Rettungsfahrten notwendig. In Brandenburg hat zwischen 2008 und 2018 die Zahl der Notfallrettungseinsätze um fast 47 Prozent zugenommen. Eine Auswertung von Rettungsdienstdaten zeigte jedoch, dass 40 Prozent dieser so versorgten Patienten nur sehr geringe Krankheitsschwere aufwiesen und einen Rettungswagen gar nicht benötigten, diesen möglicherweise nur mangels alternativer Transportmöglichkeiten bei akuten Beschwerden in Anspruch nahmen. Die Studienautoren empfehlen daher, Transportalternativen zu schaffen und Rettungsleitstellen statt Rettungswagen auch Krankentransporte disponieren zu lassen. Mithilfe von Tele-Notärzten und einer weiteren Stärkung der Kompetenzen von Rettungssanitätern könnten zudem unnötige Notarzteinsätze verhindert werden.

Herausforderung bleibt weiterhin die Fahrzeiten des Rettungsdienstes, der gesetzlichen Vorgaben zufolge in 95 Prozent aller Fälle seinen Einsatzort innerhalb von 15 Minuten erreichen sollte. Diese Vorgabe konnte in den vergangenen Jahren lediglich in kreisfreien Städten, jedoch in keinem der Landkreise Brandenburgs erreicht werden. Besonders häufig war dies bei kleineren Rettungswachen mit weniger als 1.000 Einsätzen im Jahr der Fall. Landesweit gibt es 154 Rettungswachen. Von 132 von ihnen, für die Daten vorlagen, hatten 28 im Mittel weniger als eine Rettungsfahrt pro Tag. Dies bedeutet, dass insgesamt knappe medizinische Kapazitäten hier kaum genutzt werden. Die Studienautoren empfehlen daher zu prüfen, ob Rettungswachen konzentriert werden können. Dies könnte durch den Ausbau der Luftrettung mittels Hubschrauber flankiert werden. Zudem sollten vielversprechende, derzeit noch regional begrenzte Modellprojekte im Rettungsdienst ausgeweitet werden. Dazu gehören minderdringliche Notfalltransporte oder spezifizierte Krankenfahrten.

In Brandenburg gibt es 64 Krankenhausstandorte (Stand 2018). Rund 265.000 Patienten haben sie als Notfall stationär aufgenommen. Damit geht fast jeder zweite Klinikaufenthalt auf eine Not- oder Akutsituation zurück. Eine Klinik mit Notfallaufnahme erreicht fast jeder Brandenburger in maximal 30 Minuten.

Lösungen für bessere Versorgung von Herzinfarkten und Schlaganfällen

7.449 Schlaganfälle und 5.340 Herzinfarkte führten 2018 zu einer Notaufnahme. Allerdings erfüllen nicht alle Kliniken gleiche Qualitätsvoraussetzungen bei der Behandlung, wie etwa bestimmte Mindestmengen an Behandlungsfälen oder Vorhaltung von Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten. Die Studienautoren empfehlen daher, auf Landesebene zunächst Abweichungen von etablierten Qualitätsstandards zu klären, Akzeptanzbereiche festzulegen und bei Überschreitung Kompensationsmöglichkeiten zu schaffen, wie etwa tele-medizinische Kooperationen oder Verbesserungen der Rettungskette.

Über das IGES Institut: Das Wissensunternehmen - Von der Information zur Innovation

Das IGES Institut wurde 1980 als unabhängiges Institut gegründet. Seither wurde in über 4.000 Projekten zu Fragen des Zugangs zur Versorgung, ihrer Qualität, der Finanzierung sowie der Gestaltung des Wettbewerbs im Bereich der Gesundheit gearbeitet. In jüngerer Zeit wurde das Spektrum auf weitere Gebiete der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet: Mobilität und Bildung. Das IGES Institut gründet seine Arbeit auf hohe Sach- und Methodenkompetenz und bietet in allen Arbeitsgebieten einen breiten Zugang zu eigenen und zu Datenquellen anderer Institutionen.