Seltene Stoffwechselkrankheiten: 20 Jahre Odyssee bis zur Diagnose

Bis zu 20 Jahre verstreichen, bis Patienten mit seltenen erblichen Stoffwechselkrankheiten eine gesicherte Diagnose erhalten. Am häufigsten erfahren sie im Krankenhaus, worum es sich bei ihrem Leiden handelt. Im Vergleich zu der Zeit vor Diagnosestellung beschreiben die meisten Betroffenen ihren Gesundheitszustand anschließend überwiegend als besser oder zumindest gleichbleibend, auch wenn die Krankheit fortschreitet.

Berlin, 22. April 2020 (IGES Institut) - Das zeigt eine Studie des IGES Instituts zu den Erbkrankheiten Morbus Gaucher, Morbus Fabry, Morbus Hunter sowie hereditäres Angioödem (HAE). Bei diesen Seltenen Krankheiten (engl. Orphan Diseases) sind körpereigene Enzyme defekt oder fehlen. In Folge kommt es zu schädigenden Ablagerungen von Stoffwechselprodukten in verschiedensten Organen, daher sprechen Experten von Multisystemerkrankungen. Die Studie ist die erste ihrer Art, die bei diesen Krankheiten detailliert den belastenden Weg für Patienten bis zur korrekten Diagnose und richtigen medizinischen Versorgung beschreibt. Beauftragt hatte die Untersuchung das Unternehmen Shire Deutschland (jetzt Teil der Takeda Group).

Verzögerte Diagnose besonders bei älteren Betroffenen mit seltenen Krankheiten

Waren es bei M. Hunter nur rund fünf Jahre, so mussten Patienten mit M. Fabry, M. Gaucher sowie HAE durchschnittlich rund 20 Jahre warten, bis sie wussten, worauf ihre körperlichen Symptome zurückzuführen sind. Diese verzögerte Diagnosestellung (engl. „Diagnostic Delay“) war vor allem bei älteren Betroffenen ausgeprägt. Für die Studie hatten IGES-Experten 150 Betroffene zu ihrer Krankengeschichte befragt. Das besondere war, dass viele Studienteilnehmer die ersten Erkrankten in ihren Familien waren und somit wenig Wissen über diese Erbkrankheiten bestand. Dies trug den Studienautoren zufolge maßgeblich zu der späten Diagnosestellung bei.

Viele Fehldiagnosen und unnötige Therapien bis zur Klarheit

Zahlreiche Studienteilnehmer berichteten von vorausgehenden Fehldiagnosen und demzufolge unnötigen Therapien. Bei HAE war es die Hälfte, bei M. Gaucher rund ein Viertel, bei M. Fabry waren es 14 Prozent der Befragten. Lediglich bei M. Hunter wurde die Diagnose bei den Studienpatienten ohne nennenswerte Verzögerungen gestellt. Fehldiagnosen beim HAE waren etwa Blinddarmentzündung, Allergien oder psychische Störungen. Alle Angaben zusammengenommen berichteten die Studienteilnehmer je nach Erkrankung von insgesamt bis zu 39 Fehldiagnosen.

Kontakte mit bis zu zehn Ärzten

Die Phase der Ungewissheit ging mit zahlreichen Arztkontakten und auch Krankenhausaufenthalten einher. So hatte etwa jeder vierte M. Fabry-Patient bis zur Diagnose mit sechs bis zehn Ärzten Kontakt. Fast jeder dritte HAE-Betroffene hatte zwischen dem Aufkommen erster Symptome und der Diagnose drei bis fünf Krankenhausaufenthalte. Ärzte, die in Kliniken tätig sind, spielten bei allen untersuchten Krankheiten auch die entscheidende Rolle bei der Diagnosestellung: 39 bis 63 Prozent der Befragten erfuhren in einem Krankenhaus von ihrer Krankheit.

Die Diagnose veränderte die Einschätzung des eigenen Gesundheitszustandes: Bewerteten diesen beispielsweise 37 Prozent der Patienten mit M. Gaucher ein Jahr zuvor als schlecht, waren es nach der Diagnose nur noch 16 Prozent. Als Ursache dafür nennen die Studienautoren unter anderem die inzwischen verfügbaren therapeutischen Möglichkeiten und den Wegfall der Unsicherheit.

Bisher wenig Forschung über Leidensdruck der Patienten

In den vergangenen Jahren haben Forschungsaktivitäten zu M. Gaucher, M. Fabry, M. Hunter sowie zu HAE zwar zugenommen. Allerdings wird dabei vor allem die Versorgung nach Diagnosestellung, die Entwicklung von Therapien oder ihre Wirksamkeit untersucht und weniger der Leidensdruck in der Zeit davor. Versorgungsforschung und epidemiologische Forschung können hierzu wichtige Erkenntnisse liefern. Die IGES-Studie soll dazu beitragen, das Bewusstsein der Bevölkerung wie auch der Ärzteschaft für diese Krankheiten und ihre Symptome zu stärken. Orphan Diseases sind Krankheiten, von denen jeweils weniger als 5 von 10.000 Menschen betroffen sind. Krankheiten wie M. Gaucher, M. Fabry und M. Hunter, die zu den so genannten lysosomalen Speicherkrankheiten zählen, kommen bei einem von 7.500 Neugeborenen vor.

Potenziale der DaTraV-Daten nutzen

Um für die genannten Seltenen Erkrankungen die derzeitige Versorgungssituation zu beschreiben, sollen in Ergänzung zur Befragungsstudie auch Daten aus der Routineversorgung genutzt werden. Beide Komponenten sind Teil eines umfassenden Projektes, das den Namen VISBL trägt und ebenfalls von Shire Deutschland GmbH (jetzt Teil der Takeda Group) gefördert wird. Als geeigneter Datensatz bieten sich hierfür Daten an, die der Wissenschaft im Zuge der Datentransparenzverordnung (DaTraV) bereitgestellt werden sollen, die so genannten DaTraV-Daten. Sie sind aufgrund einer Vollerfassung aller GKV-Versicherten in Deutschland derzeit noch ohne Alternative und bieten damit für die Erforschung von Seltenen Erkrankungen eine große Chance, die mit VISIBL zum ersten Mal aufgegriffen werden soll.