Experten zu Hausärztemangel: Primärversorgung als eigenständige Versorgungsform verankern

Angesichts des sich weiter zuspitzenden Hausärztemangels fordern IGES-Experten eine rasche Stärkung der ambulanten gesundheitlichen Grundversorgung. Die Primärversorgung sollte demnach künftig als eigenständige kooperative und multiprofessionelle Versorgungsform im Sozialgesetzbuch V und nachgeordneten Vertragswerken verankert werden. Dies würde die Etablierung spezifischer Leistungen und Strukturen und die Zusammenarbeit verschiedenster Gesundheitsfachpersonen befördern. So könnten bundesweit lokale und vor allem multiprofessionelle Gesundheitszentren entstehen, die dem medizinischen Bedarf einer alternden Gesellschaft viel besser gerecht werden.

Berlin, 15. Juni 2021 (IGES Institut) - Das ist das Fazit einer Studie des IGES Instituts für die Robert Bosch Stiftung. Darin verweisen die Autoren darauf, dass es in den vergangenen 20 Jahren nicht gelungen sei, den Hausärztemangel und die bestehenden Insuffizienzen der Primärversorgung zu beheben. Bereits 2019 gab es 3.300 unbesetzte Hausarztstellen, 2035 werden es etwa 11.000 sein, zeigt eine IGES-Prognose für die Studie. Ein Fünftel, nämlich 75 der 401 Kreise werden dann hausärztlich unterversorgt sein. Einem weiterem Fünftel droht Unterversorgung. Davon betroffen werden nicht mehr nur ländliche Regionen, sondern auch städtische Gebiete sein.

Mehr Gesundheit durch Gesundheitszentren

„Es müssen kurzfristig mutige und große Schritte zur Etablierung einer leistungsfähigeren Primärversorgungsebene gegangen werden“, so die Autoren. Zahlreiche Studien, Erprobungen und Erfahrungen im Ausland zeigen, wie es besser laufen kann: So werden bessere gesundheitliche Ergebnisse erreicht, wenn sich Menschen einer Region an Einrichtungen - häufig Gesundheitszentren - als erste Anlaufstelle wenden können, in denen nicht nur Hausärzte, sondern multiprofessionelle und gut vernetzte Teams aus verschiedensten medizinischen Berufsgruppen und der Pflege optimal zusammenarbeiten. Diese Teams engagieren sich zudem aktiv, um die Gesundheit der Bevölkerung auch präventiv zu fördern und arbeiten bei Bedarf mit Fachkräften öffentlicher und zivilgesellschaftlicher Institutionen wie etwa Sozialarbeitern, Mitarbeitenden von Jugendämtern oder ehrenamtlich tätigen Menschen zusammen. Nötig macht dies der demographische Wandel mit immer mehr älteren, multimorbiden und chronisch Kranken Menschen, die häufig individuelle Hilfe über das rein Medizinische hinaus benötigen.

Verlässliche Vergütung und Verträge nötig

Versorgungsform im Sozialgesetzbuch V (SGB V) sowie in den nachgeordneten Vertragswerken verankert werden, um so verlässliche Vergütungs- und Vertragsregelungen zu ermöglichen. Die spezifischen Leistungen dieser Versorgungsform werden durch lokale Versorgungseinrichtungen, so genannte Primärversorgungszentren, erbracht. Die teambasierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Gesundheitsprofessionen in den Primärversorgungszentren regeln Kooperationsverträge, die von allen Beteiligten geschlossen werden müssen. Die obligatorischen Inhalte werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss in einer Richtlinie geregelt („Primärversorgungs-Richtlinie“). Die spezifischen Leistungen der Primärversorgungszentren werden auf dieser Grundlage in Verträgen mit den gesetzlichen Krankenkassen gemeinsam und einheitlich festgelegt.

Die Zulassung und Anerkennung als Primärversorgungszentrum steht den etablierten Leistungserbringern offen, sofern sie definierte Voraussetzungen – insbesondere Vorlage eines auf den Bedarf der Bevölkerung im Einzugsgebiet ausgerichtetes Versorgungskonzept und Verpflichtung zur Sicherstellung obligatorischer Leistungen sowie personeller und struktureller Merkmale – erfüllen.

1.000 Standorte können ambulante Versorgung sichern

Nach einer Hochrechnung könnte mit 1.000 Standorten deutschlandweit ein flächendeckendes Angebot an derartigen Gesundheitszentren realisiert werden. Hintergrund für diese Erwartung sind Analysen des Programms „PORT – Patientenorientierte Zentren zur Primärversorgung“, mit dem die Robert Bosch Stiftung seit 2017 vernetzte Gesundheitszentren fördert. Eine zentrale Rolle spielen darin neben Hausärzten akademisch qualifizierte Pflegefachpersonen wie etwa „Community Health Nurses“, die auch der IGES-Vorschlag verbindlich als im Zentrumsteam Mitwirkende vorsieht, sobald diese in Deutschland in ausreichender Zahl qualifiziert sein werden.

Attraktiv für künftige Ärztegenerationen sein

Der Umbau der Primärversorgung in ein System interdisziplinärer Gesundheitszentren sei viel zukunftsträchtiger als auf noch stärkere finanzielle Anreize zu setzen, um Mediziner zur Niederlassung in unterversorgten Gebieten zu bewegen, so die Autoren. Denn eine Tätigkeit in einer Einzelpraxis in Vollzeit entspreche immer weniger den Vorstellungen von jungen Ärztinnen und Ärzten, die sich zum großen Teil eine stärkere multiprofessionelle Zusammenarbeit, Teilzeitarbeitsmodelle und das Arbeiten in einem Angestelltenverhältnis statt in eigener Praxis wünschen. Insofern können Primärversorgungszentren ein besonders attraktiver Arbeitsort auch für die jungen Hausärztinnen und -ärzte sein.