Studie zur Telepflege: Experten fordern dringenden Ausbau

Telepflege spielt in der Pflegepraxis bisher kaum eine Rolle. Dabei sehen neun von zehn Fachleuten im Einsatz neuer Kommunikationstechnologien in der Pflege eine große Chance, Pflegebedürftige und ihre Familien, aber auch Pflegekräfte selbst, besser zu unterstützen und zu entlasten. Vor allem das Telemonitoring sollte mehr genutzt werden. Allerdings ist der Markt für telepflegerische Anwendungen unübersichtlich und Telepflege als pflegerische Leistung bisher nicht sozialrechtlich verankert. Zudem hemmen die mangelhafte technische Infrastruktur und Netzabdeckung ihren Einsatz.

Titel der Studie: Studie zu den Potenzialen der Telepflege in der pflegerischen Versorgung

Hintergrund: Der Pflegebedarf in Deutschland und die Nachfrage nach professionellen Pflegeleistungen steigen. Insbesondere der Mangel an Pflegefachkräften führt bereits heute zu Engpässen. Ein vermehrter Technikeinsatz wird als ein Weg zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der pflegerischen Versorgung angesehen.

Fragestellungen: Welchen nachgewiesenen Mehrwert für Pflegende und Pflegebedürftige hat Telepflege? Welche vorrangigen Einsatzgebiete existieren?

Methode: systematische Literaturrecherche, Delphi-Befragung von Vertreterinnen und Vertretern aus der Pflege und Pflegewissenschaft.

Ergebnisse: Telepflege verbessert nachweislich die pflegerische Versorgung im häuslichen Bereich sowie die Gesundheitskompetenz und Zufriedenheit von Pflegebedürftigen und Angehörigen. Sie erhöht zudem die Arbeitszufriedenheit professionell Pflegender. Fünf Kategorien für die Anwendung wurden identifiziert und zeigen unterschiedliche Nutzenpotentiale: elektronischer Datenaustausch, Assistenzsysteme, Wundmanagement, Robotik sowie Beratung.

Autoren: Dr. Grit Braeseke, Freja Engelmann, Dr. Elisabeth Hahnel, Heidi Kulas, Marc Musfeldt, Ulrike Pörschmann-Schreiber, Sandra Rieckhoff
    
Auftraggeber: Bundesministerium für Gesundheit

Schlagwörter: Telepflege, Technikeinsatz, Digitalisierung, Pflege

Berlin, 15. Juli 2021 (IGES Institut) - Das ist das Fazit einer Studie des IGES Institut zu den Potenzialen der Telepflege in der pflegerischen Versorgung. Die Untersuchung entstand im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit.

Für die Studie hatte ein IGES-Wissenschaftlerteam internationale Fachliteratur analysiert sowie Expertinnen und Experten aus Pflege und Wissenschaft zum Einsatz und Nutzen von Telepflege befragt. Fünf Bereiche der Telepflege kristallisierten sich dabei mit unterschiedlichem Nutzenpotenzial heraus: elektronische Datenerfassung und -austausch, technische Assistenzsysteme, Wundmanagement, Robotik sowie Beratung und Anleitung Pflegebedürftiger.

Einen hohen Stellenwert maßen die Expertinnen und Experten der Digitalisierung der Pflegedokumentation zu, da dies Pflegekräfte stark entlasten würde. An zweite Stelle nannten sie das Telemonitoring, das sie als besonders relevant für eine bessere häusliche Betreuung älterer Menschen bewerteten. Telemonitoring ermöglicht die Übertragung und Überwachung von Gesundheitsparametern aus der Ferne, etwa von Vitalwerten wie Puls oder Blutdruck oder Informationen über Stürze oder Schmerzen. Die Eigenkompetenz Pflegebedürftiger könnte etwa durch Erinnerungssysteme oder Online-Plattformen zum Austausch mit Fachkräften oder Selbsthilfegruppen gestärkt werden. Allerdings sinkt die Akzeptanz der Pflegebedürftigen zur Nutzung solcher Anwendungen Untersuchungen zufolge mit zunehmenden Alter.

Mit mehr als 90 Prozent sieht die überwiegende Mehrheit der befragten Experten im Telemonitoring eine hohes Potenzial, professionell Pflegende in ihrer täglichen Pflegetätigkeit zu unterstützen. Mit Blick auf den Nutzen bei den Pflegebedürftigen waren die Experten zweigeteilt und sahen jeweils zur Hälfte ein eher hohes oder eher geringes Potenzial.

Telepflegerische Unterstützung im Wundmanagement mittels Smartphone oder Tablet wird hierzulande noch selten genutzt. Pflegefachkräfte können dabei selbst aufgenommene Fotos von Wunden zur Begutachtung an Fachpersonal senden und sich fachlichen Rat einholen. Internationalen Studien zufolge weist die Nutzung eine hohe Wirksamkeit auf, weil unter diesen Bedingungen Wunden nachweislich schneller heilen oder es weniger Komplikationen gibt. 80 Prozent der befragten Experten schätzen daran, vor allem in der ambulanten Versorgung beruflich weniger isoliert zu sein, mehr Sicherheit im Pflegehandeln und zeitnäher Unterstützung zu bekommen. Überhaupt sehen die Befragten den interdisziplinären Austausch mithilfe von Chats oder Videokonferenzen als sehr wertvoll für den Pflegealltag an.

Die Studienlage zeigt überwiegend, dass telepflegerische Anwendungen zu generellen Kosteneinsparungen für das Gesundheitssystem führen können, weil Pflegebedürftige länger im heimischen Umfeld leben und weil die Zahl von Notsituationen oder Krankenhausaufenthalten verringert wird.

Weniger Erwartungen gab es bezüglich der Robotik, wie etwa humanoide Roboter, die beispielsweise die Kommunikation mit Pflegebedürftigen unterstützen oder zur Bewegung anregen sollen. Sowohl die Studienlage als auch die Einschätzungen der Expertinnen und Experten deuten derzeit nicht auf relevante Vorteile derartiger Anwendungen hin.

In anderen Ländern mit großen ländlichen Regionen, wie etwa in den USA, Australien oder Kanada, ist Telepflege längst üblich. Dort betreuen unter anderem sogenannte Telenurses Pflegebedürftige telefonisch über räumliche Distanzen hinweg. Gerade diese Distanzüberbrückung weist in einer trotzdem qualitativ hochwertigen Versorgung ein hohes Potenzial auf.

Technikeinsatz in der Pflegewirtschaft spielt in Deutschland bisher vor allem in der betrieblichen Organisation eine wesentliche Rolle und kaum in der pflegerischen Versorgung im engeren Sinne als telepflegerisch erbrachte Leistung für die Klienten, wie eine IGES-Studie bereits im vergangenen Jahr gezeigt hatte.

Nach Einschätzung der IGES-Autoren hat die Corona-Pandemie zwar auch hierzulande einen Innovationsschub, ähnlich wie in der Telemedizin, für mehr Telepflege gebracht. Hemmnis bleiben jedoch die mangelnde Infrastruktur, fehlende technische Endgeräte in Pflegeeinrichtungen und regional oftmals noch immer schlechte Internet- und Mobilfunknetze. Aber auch fehlende Vergütung und Finanzierung behindern die Verbreitung telepflegerischer Anwendungen.

In Deutschland ist bisher nur der Begriff Telemedizin als arzt-zentrierte Anwendung leistungsrechtlich verankert. Die IGES-Experten empfehlen daher, auch für die Telepflege ähnliche Festlegungen zu treffen. Unabdingbar für eine höher frequentierte Nutzung und Etablierung der Telepflege bleibt der Netzausbau, aber auch, dass Unternehmen im Bereich Pflege in die Digitalisierung investieren und entsprechende Leistungen vermarkten. Unterstützend sollten telepflegerische Projekte und wissenschaftliche Erprobungen gefördert werden, insbesondere für die in der Studie identifizierten Anwendungsgebiete mit hohem Nutzenpotenzial.