Zukunft der Pflege: Experten fordern Pflege-Innovationsfonds

Deutschland braucht ein innovationsfreundlicheres Klima in der ambulanten Pflege. Nur so können der wachsende Pflegebedarf und der Pflegekräftemangel bewältigt werden. Zwar gibt es bereits viele auch unternehmerische Ideen, die jedoch zu oft ausgebremst werden. Nötig sind vor allem eine flexiblere und leistungsgerechtere Vergütung sowie eine gezielte finanzielle Förderung neuer kreativer Pflegeansätze, etwa durch einen „Pflege-Innovationsfonds“. Erforderlich es ist zudem, die Rolle der ambulanten Pflege weiterzuentwickeln: weg von kleinteiligen Einzelleistungen hin zu ganzheitlicher Versorgungsplanung und -steuerung.

Berlin, 20. März 2021 (IGES Institut) - Das sind Erkenntnisse einer Studie über soziale Innovationen in der ambulanten Langzeitpflege, die das IGES Institut im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellt hat. Die Untersuchung zeigt, welche unterschiedlichen innovativen Versorgungskonzepte es in der ambulanten Pflege bundesweit gibt, welche Vorteile sie für pflegebedürftige Personen und deren Angehörige sowie für die berufliche Pflegenden bringen und auf welche Hemmnisse sie bei der Überführung in eine Regelversorgung stoßen. Daraus abgeleitet werden Empfehlungen, welchen Beitrag soziale Innovationen zur Überwindung der aktuellen Herausforderungen in der ambulanten Pflege leisten können.

Sechs Millionen Pflegebedürftige im Jahr 2050

Deutlich wird, dass an vielen Stellschrauben gleichzeitig gedreht werden muss. Prognosen gehen von geschätzt 6,1 Millionen pflegebedürftigen Menschen bis 2050 aus. 2019 waren es rund vier Millionen. Während die Zahl der in Pflegeheimen versorgten Menschen im Zeitraum 2017 bis 2019 stagnierte, erhöhte sich die Zahl der zu Hause versorgten Pflegebedürftigen um 713.000. So bedarf es zum einen neuer Konzepte, um ältere Menschen zu unterstützen, so lange wie möglich ohne fremde Hilfe auszukommen und in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben. Dazu gehören Gesundheitsförderung und Prävention, die gezielte Stärkung des Selbstmanagements sowie Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige.

Zum anderen sind neue Ansätze erforderlich, um die Arbeit von beruflich Pflegenden durch optimierte betriebliche Prozesse oder Technikeinsatz effektiver und effizienter zu gestalten. Dies entlastet das Pflegepersonal, was wiederum dazu beitragen kann, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Über allem steht, das gesamte System organisations- und fachübergreifend besser zu vernetzen und neue Formen der Zusammenarbeit zu etablieren.

Weniger Krankschreibungen stärkt Personaldecke

Eine Beispielrechnung zeigt, wie sich etwa eine Verringerung von krankheitsbedingten Fehlzeiten auf die Personaldecke in der Pflege auswirkt: Würde sich der derzeitige Krankenstand durch Muskel-Skelett-Erkrankungen, wie Rückenleiden, bei Pflegekräften um 40 Prozent senken lassen, ergäben sich zusätzliche Personalressourcen von knapp 1.700 Vollzeitkräften jährlich.

Insgesamt 26 Projekte mit sozialen Innovationen hat das IGES Institut für die Studie ausgewertet. Dazu gehören bekannte Konzepte wie das „Bielefelder Modell“ mit einem quartiersbezogenen Ansatz des begleiteten Wohnens oder das niederländische Modell „Buurtzorg“, das auf kleine, sich selbst organisierende Pflegeteams und gezielte Vernetzung sozialer Ressourcen setzt. Langfristig erfolgreich erweisen sich Konzepte, die die sektorenübergreifende Integration der Versorgung und eine regionale Vernetzung fördern sowie einen starken Sozialraumbezug aufweisen, also auf Besonderheiten im Quartier zugeschnitten sind.

Kommunen sollten stärkere Rolle einnehmen

Es zeigt sich zudem, dass künftig professionell und informell Pflegende, wie ehrenamtlich Engagierte und Angehörige, stärker an einem Strang ziehen müssen, um ein erfolgreiches Pflegesystem langfristig zu sichern. Erforderlich ist es zudem, dass sich Kommunen sowohl konzeptionell als auch finanziell an neuen Pflegeinitiativen beteiligen, weil sie vor Ort am besten vernetzen und Innovationstätigkeit steuern können.

Viele Projekte setzen auf Case-Management

Mehrere der untersuchten innovativen Modelle setzen das von nationalen und internationalen Pflegefachleuten geforderte Case-Management um. Ein umfassendes Case-Management in der Pflege kann die Selbständigkeit von Pflegebedürftigen, die oft chronisch und vielfach krank sind, stärken. Und es unterstützt die Steuerung und Koordination der medizinischen und pflegerischen Angebote, die für Betroffene oft unübersichtlich sind.

Finanzierungsprobleme bremsen kreative Ideen aus

Fazit der Studie ist, dass es inzwischen an vielen Stellen kreative und innovative Initiativen in der ambulanten Pflege gibt, die auf unterschiedlichen Ebenen gesellschaftliche Ressourcen für eine bessere pflegerische Versorgung nutzen. Hindernis ist oft jedoch die ungesicherte Finanzierung: Das beginnt bei der Starthilfe für die Erprobung innovativer Ideen, geht über die Anschlussfinanzierung nach erfolgreicher Pilotierung und endet bei Vergütungsproblemen, wenn ein neuer Ansatz in den Pflegealltag integriert werden soll.

Daher schlagen im Rahmen der Studie befragte Pflegeexperten einen „Pflege-Innovationsfonds“ mit Beteiligung der Pflegekassen vor. Dieser sollte bei den formalen Anforderungen an den Nutzennachweis anders als der bereits bestehende Innovationsfonds im Gesundheitsbereich auf die Besonderheiten der Langzeitpflege zugeschnitten sein und ebenso den Übergang erfolgreicher Projekte in die Regelversorgung vorsehen. Zudem fordern sie ein flexibleres und leistungsgerechteres Vergütungssystem. Vor allem die Möglichkeiten einer zeitbezogenen Vergütung ambulanter Pflegeleistungen statt über Leistungskomplexe sollten mehr genutzt werden, um Innovationen zu erleichtern. Dies scheiterte bisher oft daran, dass sich Pflegekassen und Verbände oder Einrichtungsträger nicht über auskömmliche Stundensätze einigen konnten.

Neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff erfordert neue Rolle der Pflege

Ein weiteres Fazit lautet: Die professionelle ambulante Langzeitpflege in Deutschland muss künftig, wie es auch der 2017 eingeführte neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erfordert, eine umfassendere Rolle im Versorgungssystem einnehmen – weg von punktuell erbrachten Einzelleistungen hin zu ganzheitlicher Versorgungsplanung und -steuerung. Das erfordert entsprechend qualifiziertes Personal und eine adäquate Vergütung.

Für die Studie „Potenziale sozialer Innovationen in der ambulanten Langzeitpflege“ hat ein IGES Wissenschaftlerteam in der Literatur und Praxis nach bereits bestehenden innovativen Pflegekonzepten recherchiert und diese analysiert. Zudem interviewten sie Pflegeexperten.