Prognose: In Baden-Württemberg fehlen künftig mehr als 2.400 Kurzzeitpflegeplätze

Baden-Württemberg benötigt bis zum Jahr 2035 einer Prognose zufolge 2.445 zusätzliche Kurzzeitpflegeplätze, davon 2.118 eingestreute und 327 ganzjährig vorzuhaltende respektive solitäre Kurzzeitpflegeplätze. Das ist im Vergleich zu 2019 ein Plus von rund 33 Prozent, um der wachsenden Nachfrage gerecht zu werden. Dabei handelt es sich um eine konservative Schätzung, so dass das Defizit real wahrscheinlich noch größer sein wird. Allerdings variiert der Bedarf regional. Ein Expertenteam des IGES Instituts hat für das Bundesland geeignete Maßnahmen identifiziert, um regional angepasst den Ausbau an Kurzzeitpflegeplätzen voranzubringen.

Titel der Studie: Kurzzeitpflege in Baden-Württemberg - Forschungsvorhaben zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der Kurzzeitpflege in Baden-Württemberg

Hintergrund: Pflegerische Versorgung von Pflegebedürftigen im häuslichen Umfeld ist ein gesundheitspolitisches Ziel. Um dies zu sichern und vor allem pflegende Angehörige zu entlasten, wurden so genannte ergänzende Leistungen wie die Kurzzeit- oder Verhinderungspflege eingeführt. Allerdings gibt es in vielen Bundesländern Engpässe, insbesondere bei der Kurzzeitpflege, die eine vollstationäre Leistung ist.

Fragestellungen: Wie stellt sich die aktuelle Situation in der Kurzzeitpflege in Baden-Württemberg dar? Mit welchem Bedarf an Kurzzeitpflegeplätzen ist dort bis zum Jahr 2035 zu rechnen und wie kann diesem Bedarf entsprochen werden?

Methode: Quantitative und qualitative Datenerhebungen, Daten- und Literaturrecherchen; Experteninterviews in Kommunen, Pflegestützpunkten, Krankenhäusern und bei Pflegekassen; Online-Befragung von vollstationären Pflegeeinrichtungen, Versichertenbefragung; Modellrechnungen.

Ergebnisse: Bis zum Jahr 2035 sind in Baden-Württemberg rund 2.445 zusätzliche Kurzzeitpflegeplätze nötig (Basisszenario); Vorschläge zum Angebotsausbau: regionale Bedarfsermittlung, Stärkung der quartiersnahen Versorgung, neue Angebote der Verhinderungspflege, Ausbau von Tagespflegeangeboten, vergünstigte Baugrundstücke für Kurzzeitpflegeeinrichtungen, Verpflichtung zu Kurzzeitpflegeplätzen beim Neubau von Pflegeeinrichtungen, bessere Kooperation unter den verschiedenen Leistungserbringern.

Autoren: Dr. Elisabeth Hahnel, Dr. Grit Braeseke, Ulrike Pörschmann-Schreiber, Claudia Pflug, Thorsten Tisch, Marc Musfeldt, Isabelle Oehse, Marian Delekat
    
Auftraggeber: Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS)

Schlagwörter: Pflege, Ergänzungsleistungen, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege, Übergangspflege, Bedarf

Veröffentlichung: Mai 2023

Berlin, 21. Juni 2023 (IGES Institut) - Demzufolge sollten nach einer Ermittlung des regionalspezifischen Bedarfs vorrangig solitäre und auch ganzjährig vorzuhaltende Kurzzeitpflegeplätze entstehen, heißt es in einem Forschungsbericht des IGES Instituts im Auftrag des Kommunalverbandes für Jugend und Soziales Baden-Württemberg (KVJS). Nur diese Plätze stehen - anders als so genannte eingestreute Kurzzeitpflegeplätze in Einrichtungen - verlässlich für Kurzzeitpflegegäste zur Verfügung. Eingestreute Plätze fallen häufig weg, da sie für die Dauerpflege genutzt werden.

Zugleich sollten alternative Formen der (stationären) Kurzzeitpflege wie Angebote der Verhinderungspflege in ambulant betreuten Wohngemeinschaften oder in Quartiershäusern gefördert werden. Auch Angebote der Tagespflege sowie der stunden- oder tageweisen „Kurzzeitpflege auf Zeit“ könnten die Versorgungslage verbessern und vor allem eine Alternative für die sogenannte „Urlaubspflege“ (Kurzzeitpflege wegen des Urlaubs der pflegenden Angehörigen) darstellen.

Modellprojekte in der Kurzzeitpflege verstetigen

Die IGES-Gutachter verweisen zudem auf die zahlreichen bereits bestehenden, innovativen Ansätze und Modellprojekte in der Kurzzeitpflege. Diese Modelle sind in der Regel regional begrenzt, auf unterschiedliche Finanzierungsquellen angewiesen und stoßen teilweise auf unterschiedlichste Hemmnisse. Wichtig sei laut Studie auch, die Öffentlichkeitsarbeit zur Kurzzeit- und Verhinderungspflege auf kommunaler Ebene zu verbessern und erfolgreiche Modellprojekte bekannt zu machen.

Case Management bei Kurzzeitpflege nach Klinikaufenthalt

Bei der Weiterentwicklung des Kurzzeitpflege-Angebots sind die verschiedenen Anlässe der Kurzzeitpflege in den Blick zu nehmen. So sollte die Verhinderungspflege tendenziell eher in Einrichtungen der stationären Dauerpflege mit eingestreutem beziehungsweise ganzjährig verfügbarem Kurzzeitpflegeangebot angesiedelt sein. Die Kurzzeitpflege nach Krankenhausaufenthalt oder in häuslichen Krisensituationen hingegen sollte eher in solitären Kurzzeitpflegeeinrichtungen oder stationären Pflegeeinrichtungen mit ganzjährig verfügbaren Plätzen erfolgen. Vorteilhaft ist hier eine räumliche Anbindung an Rehabilitationseinrichtungen, an therapeutisches und ärztliches Personal sowie der Einsatz von Case Management. Case Management ist vor allem bei Kurzzeitpflege nach einem Krankenhausaufenthalt erforderlich, um Betroffene und ihre Familien bei der weiteren Organisation der Versorgung zu unterstützen.

Übergangspflege mit beobachten

Die Angebotsentwicklung der Übergangspflege im Krankenhaus (gem. § 39e SGB V) sollte in den Regionen ebenfalls erfasst werden. Dieses Leistungsangebot wurde im Juli 2021 eingeführt. Es richtet sich an Patienten, die einen Bedarf an Leistungen der häuslichen Krankenpflege, der Kurzzeitpflege, Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gemäß § 40 SGB V oder Pflegeleistungen nach dem Elften Buch aufweisen, und für die die entsprechenden Leistungen nicht oder nur unter erheblichem Aufwand erbracht werden können. Mögliche Effekte hinsichtlich einer daraus resultierenden Entlastung der Kurzzeitpflegeeinrichtungen können bislang noch nicht eingeschätzt werden.

Zusammenarbeit aller Leistungserbringer verbessern

Die IGES-Studie hat erneut die hohen Koordinationsaufwände in den Kurzzeitpflegeeinrichtungen aufgezeigt. Eine verbindliche Zusammenarbeit aller Beteiligten könnte diese Aufwände verringern und das Personal entlasten. Das IGES-Gutachterteam schlägt dafür beispielsweise eine zentral gesteuerte oder regional übergeordnete Organisation der Platzvermittlung, regionale Versorgungsnetzwerke und kommunale Pflegekonferenzen vor. Auch die Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten oder Krankenhäusern, vor allem beim Entlassmanagement, sollte verbindlicher geregelt werden.

Hintergrund:

Wie in anderen Bundesländern besteht auch in Baden-Württemberg ein flächendeckender Mangel an Kurzzeitpflegeplätzen. Die Gründe sind vor allem die hohe Nachfrage nach Dauerpflegeplätzen zulasten von, vor allem eingestreuten, Kurzzeitpflegeplätzen. Auch gestiegene bauliche Auflagen oder der hohe Verwaltungs- und Koordinierungsaufwand bei Kurzzeitpflegegästen im Vergleich zu Dauerpflegebewohnerinnen und -bewohnern beeinflussen den weiteren Ausbau. Die empirischen Erhebungen von IGES zeigen zudem, dass der durchschnittliche Radius von Anfragen von Betroffenen nach freien Kurzzeitpflegeplätzen bei 13 bis 22 Kilometer Entfernung lag. Das sind Entfernungen, bei denen Angehörige oder Nachbarn mehrheitlich auf das Auto angewiesen sind, wenn sie Besuche während des Kurzzeitpflegeaufenthaltes machen wollen.