Gutachten: Bedarf an HIV-Spezialversorgung steigt um 40 Prozent bis 2035

Die Zahl der HIV-Fälle wird in den kommenden Jahren weiter steigen, weil Betroffene dank wirksamer Therapien und guter Versorgungsstrukturen deutlich länger leben. Der Bedarf an HIV-Spezialversorgung könnte daher bereits in den kommenden zehn Jahren um mehr als 40 Prozent steigen. Um das erreichte Behandlungsniveau halten und auf die besonderen Bedürfnisse älterer HIV-Infizierter eingehen zu können, besteht Handlungsbedarf. IGES-Experten schlagen dafür eine Reihe von Maßnahmen vor.

Berlin, 10. Juli 2025 (IGES Institut) - Das zeigt ein Gutachten des IGES Instituts. Es entstand im Auftrag der Deutschen AIDS-Stiftung (DAS), der Deutschen Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger Ärztinnen und Ärzte für Infektionskrankheiten und HIV-Medizin (dagnä) und der Deutschen AIDS-Gesellschaft (DAIG) und in Kooperation mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi).

Höhere Krankheitslast bei Menschen mit HIV

Der kontinuierlich steigende Anteil von Menschen mit HIV, die steigende HIV-Prävalenz, spiegelt sich bereits heute in erhöhten Versorgungsbedarfen wider. Denn im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung haben HIV-Patientinnen und -Patienten schon jetzt eine höhere und komplexere Krankheitslast (Morbidität). Sie leiden häufiger an chronischen Infektionen, Stoffwechselstörungen und psychiatrischen Erkrankungen. Dies wird sich vor allem durch die im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung stärkeren Alterungseffekte bei HIV-Betroffenen zukünftig weiter verstärken. Die Folgen werden eine steigende Behandlungsintensität sein.

Behandlung vor allem in HIV-Schwerpunktpraxen

Menschen mit HIV werden derzeit vor allem ambulant und in HIV-Schwerpunktpraxen betreut. Im Jahr 2023 erhielten von den rund 84.400 gesetzlich versicherte Menschen mit einer HIV-Diagnose etwa 78 Prozent eine vertragsärztliche HIV-Schwerpunktversorgung.

Derzeit gibt es bundesweit knapp 200 HIV-Schwerpunktpraxen, die immer mehr Patienten betreuen: Während sich die Patientenzahl im Zeitraum 2014 bis 2023 um rund 38 Prozent erhöhte, stiegt die durchschnittliche Zahl der Ärztinnen und Ärzte pro HIV-Schwerpunktpraxis dagegen nur um rund 15 Prozent.

Drohender Ärztemangel in der HIV-Schwerpunktversorgung

Projektionen des Zi für das Gutachten zeigen, dass der Versorgungsbedarf deutlich schneller zunehmen wird als die dafür notwendigen ärztlichen Kapazitäten: Bei alterungsbedingt weiterhin steigendem Bedarf könnte die Nachfrage nach HIV-Schwerpunktversorgung bis 2035 um 44 Prozent gegenüber 2023 steigen. Demgegenüber könnte sich trotz Neuzugängen, aber bei abnehmender durchschnittlicher Versorgungsleistung die Ärztezahl in der HIV-Schwerpunktversorgung nur um 10 Prozent erhöhen (von 338 auf 371 im Zeitraum 2023 bis 2035).

Je nach Entwicklung des ärztlichen Nachwuchses könnten 2035 etwa 60, im ungünstigen Fall sogar rund 130 ärztliche HIV-Spezialistinnen und -Spezialisten fehlen – das entspräche bis zu 26 Prozent der benötigten Gesamtzahl. Dabei verteilt sich die Lücke regional verschieden: im Südwesten Deutschlands könnte sie mit bis zu 38 Prozent deutlich größer ausfallen als im Nordosten mit rund 14 Prozent.

60 Prozent der HIV-Betroffenen fühlen sich gut versorgt

Dies könnte das bisher erreichte, gute Behandlungsniveau gefährden. Denn eine für das Gutachten erfolgte Befragung von knapp 700 Menschen mit HIV zeigt derzeit eine hohe Zufriedenheit mit der Versorgung: So fühlen sich 62 Prozent insgesamt gut versorgt. Bezogen auf die Betreuung in HIV-Schwerpunktpraxen waren es sogar mehr als 95 Prozent der Befragten, die mit Behandlungsqualität und ärztlicher Fachkenntnis sehr und eher zufrieden waren. 87 Prozent sind mit der Erreichbarkeit ihrer Praxis zufrieden. Allerdings bestehen regionale Unterschiede: Während in Großstädten über 90 Prozent der Befragten mit der Erreichbarkeit zufrieden waren, lag dieser Wert in ländlichen Gemeinden bei 76 Prozent.

Handlungsempfehlungen für die zukünftige HIV-Versorgung

Das Gutachten gibt Handlungsempfehlungen, um drohende Versorgungslücken zu verhindern. So sollten etwa bestehende Förderprogramme für die hausärztliche Versorgung systematisch auch die Teilnahme an der HIV-Schwerpunktversorgung einbeziehen. Auch sollten teilnahmebereite Ärztinnen und Ärzte besser unterstützt werden, die fachlichen und ausstattungsbezogenen Anforderungen der HIV/AIDS-Versorgung zu erreichen.

Aufgrund der alternden HIV-Population ist es darüber hinaus wichtig, strukturelle Voraussetzungen für eine Vernetzung von HIV-Schwerpunktpraxen mit geriatrischen Versorgungseinrichtungen zu schaffen und dabei auch psychosoziale Fachkräfte stärker in die Arbeit zu integrieren werden. Um die Ausweitung regionaler Versorgungslücken zu verhindern, sollten frühzeitig telemedizinische Verbundstrukturen mit Konsiliarmöglichkeiten gefördert werden.

Auch bei den Krankenhäusern gibt es Handlungsbedarf. So sollte vollständige Transparenz darüber hergestellt werden, welchen Versorgungsanteil HIV-Ambulanzen an Krankenhäusern übernehmen und die zunehmende Bedeutung kleinerer und nicht universitärer Kliniken bei der Versorgung von Personen mit HIV als Nebendiagnose in den Versorgungsleitlinien aufgegriffen werden.