Versicherungsfremde Leistungen in der GKV auf dem Prüfstand
In der Debatte um einen stärkeren Ausgleich versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln gibt eine neue IGES-Studie Orientierung. Sie analysiert Art, Umfang und Begründbarkeit dieser diskutierten Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Demnach sind Leistungen mit einem Finanzvolumen von knapp 22 Milliarden Euro nach den entwickelten Kriterien als versicherungsfremd begründbar. Weitere Leistungen in Höhe von rund 36 Milliarden Euro können teilweise als versicherungsfremd eingestuft werden. Hier ist es gerechtfertigt, dass Steuerzuschüsse pauschal erfolgen. Sie sollten aber regelmäßig angepasst werden. Neben Steuermitteln gibt es weitere Ansätze, die finanziellen Belastungen der GKV aus versicherungsfremden Leistungen zu verringern.
Titel der Studie: Versicherungsfremde Leistungen in der GKV
Hintergrund: Die schlechte Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) hat die Debatte über die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen und den Ruf nach mehr Steuermitteln weiter verstärkt. Das Spektrum der diskutierten Leistungen ist groß. Eine eindeutige Definition gibt es nicht.
Fragestellung: Nach welchen Kriterien können versicherungsfremde Leistungen bewertet und kategorisiert werden? Welchen finanziellen Umfang haben potenzielle versicherungsfremde Leistungen?
Methode: Systematisierung und Kategorisierung potenziell versicherungsfremder Leistungen nach kriterienbasierter Begründbarkeit ihres versicherungsfremden Charakters; Aktualisierung bestehender Daten zum Umfang versicherungsfremder GKV-Leistungen.
Ergebnisse: Potenziell als versicherungsfremd eingestufte Leistungen umfassen ein finanzielles Volumen von insgesamt rund 64 Mrd. Euro. 22 Mrd. Euro sind nach IGES-Kriterien begründbar versicherungsfremd, 36 Mrd. Euro teilweise, darunter vor allem familienpolitische Leistungen. Zur Entlastung der GKV gibt es neben Steuerzuschüssen weitere Finanzierungsoptionen.
Autoren: Dr. Martin Albrecht, Dr. Richard Ochmann
Auftraggeber: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung
Schlagwörter: GKV, versicherungsfremde Leistungen, Bewertung, Finanzierung
Veröffentlichung: Dezember 2025
Berlin, 4. Dezember 2025 (IGES Institut) - Das sind die zentralen Erkenntnisse einer neuen IGES-Studie, die für das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung entstand. Die Untersuchung setzt an einem zentralen Problem der Debatte um versicherungsfremde Leistungen an: an der bislang fehlenden allgemeingültigen oder gar gesetzlichen Definition derartiger Leistungen. Sie liefert deshalb konzeptionelle Kriterien, um systematisch zu bewerten, welche Leistungen als versicherungsfremd gelten können.
Insgesamt identifiziert die Studie potenziell versicherungsfremde Leistungen im Umfang von rund 64 Milliarden Euro. Knapp 22 Milliarden Euro davon lassen sich nach den IGES-Kriterien als versicherungsfremd begründen. Den größten Posten bildet dabei die beitragsfreie Mitversicherung von Ehepartnern mit gut elf Milliarden Euro, bei der es sich um eine familienpolitische Maßnahme handelt. Sie begünstigt zudem Einverdiener-Ehepaare gegenüber Doppelverdiener-Partnerschaften bei gleichem Gesamteinkommen.
Eine weitere bedeutende, als versicherungsfremd begründbare Belastung der GKV resultiert aus den pauschalierten Beiträgen für erwerbsfähige Bürgergeldbezieher. Dies beläuft sich auf 4,2 Milliarden Euro, wenn man an vergleichbaren Erwerbseinkommen bemessene Beiträge als Maßstab verwendet und Familienversicherte rausrechnet. Auch die indirekte Mitfinanzierung von Krankenhausinvestitionen durch die Kasse - schätzungsweise 3,4 Milliarden Euro -gehört dazu. Diese wären grundsätzlich im Rahmen der dualen Finanzierung von den Bundesländern zu tragen.
36 Milliarden Euro teilweise versicherungsfremde GKV-Leistungen
Weitere rund 36 Milliarden Euro stuft die Studie als "teilweise versicherungsfremd" ein. Hier dominiert die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern mit 23,6 Milliarden Euro. Diese lässt sich den Autoren zufolge teilweise mit dem Umlageverfahren der GKV begründen, da Kinder als zukünftige Beitragszahler zur Stabilisierung des Systems beitragen. Andererseits haben familienpolitische Maßnahmen grundsätzlich eine gesamtgesellschaftliche Dimension, was für eine Steuerfinanzierung spricht.
Knapp sieben Milliarden Euro können dagegen kaum als versicherungsfremd eingestuft werden. Dazu gehören die Hospiz- und Palliativversorgung (1,6 Milliarden Euro) oder Freibeträge bei Leistungen der betrieblichen Altersversorgung (1,2 Milliarden Euro).
Ansätze zur Stärkung der Beitragsfinanzierung in der GKV
Die IGES-Wissenschaftler zeigen darüber hinaus auf, wie die versicherungsfremden Belastungen der GKV durch eine Stärkung der Beitragsfinanzierung reduziert werden können. So könnte bei der Beitragsbefreiung für Ehepartner alternativ ein Splitting-Ansatz analog zum Steuerrecht eingeführt werden. Dabei würde das Gesamteinkommen von Ehepartnern hälftig aufgeteilt und für beide Partner Beiträge erhoben. Dies würde zu einer gleichmäßigen Beitragsbelastung bei gleichem Gesamteinkommen führen, das Beitragsaufkommen erhöhen, sodass der Beitragssatz abgesenkt werden könnte.
Umgang mit Beiträgen von Bürgergeldempfängern
Mit Blick auf Bürgergeldempfänger könnten an vergleichbarem Erwerbseinkommen bemessene Beiträge die versicherungsfremden Belastungen der GKV um schätzungsweise 4,2 Mrd. Euro verringern (ohne Familienangehörige). Ähnlich könnte bei Beziehern von Eltern- und Mutterschaftsgeld, bei Midi-Jobbern und Studenten verfahren werden, wodurch zusätzliche Beitragseinnahmen in Höhe von etwa 2,1 Milliarden Euro möglich wären. Eine zusätzliche Steuerfinanzierung ergäbe sich hierbei jeweils indirekt, weil die höheren GKV-Beiträge in den entsprechenden steuerfinanzierten Transfereinkommen zu berücksichtigen wären.
Alternativ könnten für diese Gruppen auch kostendeckende Beiträge erhoben werden. Für Bürgergeldempfänger ergäben sich hierdurch Mehreinnahmen in Höhe von knapp sechs Milliarden Euro (ohne Familienangehörige). Kostendeckende Beiträge entsprächen nicht den regulären Prinzipien der Beitragsbemessung in der GKV; aufgrund der Heterogenität der Gruppe der Bürgergeldbezieher werden sie daher als nur teilweise begründbar eingestuft.
Anteil des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen sinkt
Die Studie macht ferner deutlich, dass die reguläre Höhe des jährlichen Bundeszuschusses an die GKV zur Abgeltung versicherungsfremder Leistungen von 14,5 Milliarden Euro seit 2017 unverändert geblieben ist, während die GKV-Ausgaben kontinuierlich gestiegen sind. Dadurch sank der Anteil des Bundeszuschusses an den Gesamtausgaben der Krankenkassen von 6,3 Prozent im Jahr 2017 auf schätzungsweise 4,2 Prozent im Jahr 2025. Dass der Bundeszuschuss als Pauschale gezahlt wird, lässt sich durch die nicht immer eindeutige Abgrenzung versicherungsfremder Leistungen begründen. Eine Anpassung der Höhe, also eine notwendige Dynamisierung, fehlt jedoch.
26 potenzielle versicherungsfremde Leistungen der GKV unter der Lupe
Die IGES-Studie klopft insgesamt 26 potenziell versicherungsfremde Leistungen ab. Diese stammen etwa aus den Bereichen Beitragsbefreiung, Familien, Prävention, Unterstützung einkommensschwacher Menschen, Gesundheitsinfrastruktur oder Aus- und Weiterbildung. Die dafür entwickelten Bewertungskriterien berühren Fragen der Versichertengemeinschaft (Wer gehört zur GKV-Solidargemeinschaft?), des Zwecks (Welche Leistung überschreitet den typischen Zweck der Krankenversicherung?) und des Wirkungsbereichs (Nutzen Leistungen auch außerhalb der GKV-Versichertengemeinschaft?).
Die IGES-Studie liefert damit eine wissenschaftlich fundierte Grundlage für die politische Diskussion über die angemessene Finanzierung versicherungsfremder Leistungen in der GKV. Sie zeigt auf, wo eine Umfinanzierung aus Steuermitteln ordnungspolitisch begründet ist und wo alternative Lösungen möglich sind.


